Keimbahntherapie
Als Keimbahntherapie wird der intentionale Gentransfer in Keimbahnzellen (Eizellen oder Spermien) bezeichnet. Er zielt darauf ab, Erkrankungen, die auf einem Gendefekt beruhen, bei den Nachkommen der gendefekt-tragenden Person zu verhindern. Die Keimbahntherapie hat damit in erster Linie die Prävention von schwerwiegenden, genetisch bedingten Erbkrankheiten zum Ziel.
In Deutschland und vielen anderen Ländern ist der gezielte Keimbahneingriff gesetzlich verboten. Zum einen gründet das Verbot auf den nicht absehbaren Folgen für mögliche Nachkommen, da beispielsweise unerwünschte Veränderungen im Genom nicht sicher auszuschließen sind und generationenübergreifend weitervererbt werden könnten. Zum anderen hätte die Erforschung eines solchen Verfahrens einen hohen Embryonenverbrauch zur Folge und Humanexperimente mit eventuell unverantwortbaren Abläufen könnten nicht vollständig ausgeschlossen werden. Selbst wenn das Ziel des Keimbahneingriffs grundsätzlich vertretbar ist, wäre also die dafür erforderliche Forschung nach heutigem Stand ethisch nicht zu rechtfertigen. Neben den unkalkulierbaren Sicherheitsrisiken besteht zudem die Sorge, dass die Entwicklung solcher Verfahren den Boden für gezielte, missbräuchliche Modifikationen des menschlichen Erbguts bereiten könnte. Auch eine rechtliche stark begrenzte Zulassung der Keimbahntherapie auf bestimmte, schwerwiegende Krankheiten würde die Gefahr der missbräuchlichen Anwendung voraussichtlich nur unzureichend erfassen, da fraglich ist, nach welchen Kriterien eine Grenze zwischen schweren und weniger schweren Erkrankungen und Behinderungen gezogen werden sollte. Eine breit aufgestellte, kontrovers geführte Diskussion über dieses Thema ist innerhalb der ‚scientific community‘ nie wirklich zum Erliegen gekommen. Man findet sowohl Ansätze, die das Verbot des Keimbahneingriffs bestärken, als auch solche, die die Keimbahntherapie unter bestimmten Voraussetzungen, d. h. falls es eine sichere und zuverlässige Technik dafür gäbe, nicht nur für erlaubt, sondern sogar für geboten halten.
Für Empörung in der ‚scientific community‘ und der Öffentlichkeit sorgte der chinesische Wissenschaftler He Jiankui, als er im November 2018 die Geburt zweier Babys bekannt gab, die er zuvor genetisch verändert hatte. He Jiankui gab an, mithilfe von CRISPR/Cas9 das CCR5-Gen der Embryonen verändert zu haben, um diese gegen das vom Vater übertragene HI-Virus immun zu machen. Die editierten Embryonen habe Jiankui einer Frau eingesetzt, die daraufhin zwei lebende Mädchen zur Welt brachte. He Jiankuis Vorgehen wurde aus mehreren Gründen scharf verurteilt. Einerseits kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Veränderung des CCR5-Gens noch weitere, schwerwiegende Auswirkungen haben könnte, da bisher nicht alle Funktionen dieses Gens vollständig bekannt sind. Andererseits ist die Notwendigkeit dieses Eingriffes stark umstritten, da es bereits sichere Methoden gibt, um die Übertragung des HI-Virus vom Vater auf das Kind zu verhindern. Mit seinem Experiment hat Jiankui zudem eine Reihe von ethischen und wissenschaftlichen Richtlinien wissentlich umgangen. Von der Southern University of Science in Shenzhen, an der er tätig war, wurde er suspendiert. Da auch in China das genetische Editieren menschlicher Embryonen zum Zweck der Reproduktion gesetzlich verboten ist, wurde Jiankui strafrechtlich verfolgt und verurteilt.
Der Fall sorgte dafür, dass viele Forschenden ein globales Moratorium für Keimbahn-Eingriffe forderten, laut dem sich alle Nationen freiwillig dazu verpflichten sollten, auf einen klinischen Einsatz von Keimbahn-Veränderungen an Spermien, Eizellen und Embryonen zu verzichten. Bereits 2017 forderte der Deutsche Ethikrat in einer Ad-hoc-Empfehlung einen internationalen politischen Diskurs sowie internationale Regulierungen zu Keimbahneingriffen beim Menschen. Im Mai 2019 folgte eine ausführliche Stellungnahme des Deutschen Ethikrats, in der sich dieser ebenfalls für ein internationales Moratorium ausspricht. Zwar ergebe sich aus der ethischen Analyse keine kategorische Unantastbarkeit der menschlichen Keimbahn, jedoch seien Keimbahneingriffe derzeit wegen ihrer unabsehbaren Risiken als ethisch unverantwortlich zu beurteilen.
Zum gesetzlichen Verbot der Keimbahntherapie:
Duttge, G. (2013): Rechtliche Aspekte. In: Baum, C. / Duttge, G. / Fuchs, M.: Gentherapie. Medizinisch-naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte. Bd. 15 der Reihe Ethik in den Biowissenschaften – Sachstandsberichte des DRZE. Freiburg i. B.: Verlag Karl Alber, 64–66.
Einen Überblick zur ethischen Diskussionen über den Keimbahneingriff bietet Michael Fuchs:
Fuchs, M. (2013): Ethische Aspekte. In: Baum, C. / Duttge, G. / Fuchs, M.: Gentherapie. Medizinisch-naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte. Bd. 15 der Reihe Ethik in den Biowissenschaften – Sachstandsberichte des DRZE. Freiburg i. B.: Verlag Karl Alber, 100–107.
Eine Übersicht über verschiedene Argumente in der Debatte bieten außerdem Christoph Rehmann-Sutter und Traute Schroeder-Kurth:
Rehmann-Sutter, C. (2003): Politik der genetischen Identität. Gute und schlechte Gründe, auf Keimbahntherapie zu verzichten. In: Rehmann-Sutter, C. / Müller, H. (Hg.): Ethik und Gentherapie. Zum praktischen Diskurs um die molekulare Medizin. 2., überarb. Aufl. Tübingen: Francke (Ethik in den Wissenschaften: 7), 225–237.
Schroeder-Kurth, T. (2000): Pro und Contra Keimbahntherapie und Keimbahnmanipulation. Eine Literaturübersicht mit Kommentaren. In: Bender, W. / Gassen, H. G. / Platzer, K. / Seehaus, B. (Hg.): Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Naturwissenschaftliche und medizinische Aspekte. Rechtliche und ethische Implikationen. Münster: Agenda Verlag (Darmstädter interdisziplinäre Beiträge: 1), 159–181.
Zur Forderung eines internationalen Moratoriums:
Lander, E. S. / Baylis, F. / Zhang, F. / Charpentier, E. / Berg, P. / Bourgain, C. / Friedrich, B. / Joung, J. K. / Li, J. / Liu, D. / Naldini, L. / Nie, J.-B. / Qiu, R. / Schoene-Seifert, B. / Shao, F. / Terry, S. / Wei, W. / Winnacker, E.-L. (2019): Adopt a moratorium on heritable genome editing. In: Nature 567, 165–168. doi: 10.1038/d41586-019-00726-5 Online Version (Englisch)
Zur Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats:
Deutscher Ethikrat (2017): Keimbahneingriff am menschlichen Embryo: deutscher Ethikrat fordert globalen politischen Diskurs und internationale Regulierungen. Ad-hoc-Empfehlung. Online Version
Zur Stellungnahme des Deutschen Ethikrats:
Deutscher Ethikrat (2019): Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Stellungnahme vom 9. Mai 2019. Online Version